Die aktuelle Situation um die
Corona-Krise beeinflusst auch die deutsch-tschechischen
Nachbarschaftsbeziehungen. In Doppelinterviews des Kulturreferenten des Adalbert Stifter Vereins für die böhmischen Länder mit jeweils einem deutschen und einem
tschechischen Vertreter der Zivilgesellschaft, so etwa aus Politik,
Kirche, Kultur, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, Touristik, Medizin
etc. werden diese Auswirkungen, aber auch andere Herausforderungen
für die Beziehungen etwas näher beleuchtet.
Acht Fragen (in Anspielung auf die
zentrale Bedeutung der Zahl 8 für die böhmische Geschichte) werden
dabei gestellt, manche bleiben dabei gleich, manche werden an den
jeweiligen institutionellen oder persönlichen Hintergrund des
Gesprächspartners angepasst. "Doppelt gefragt" ist eine Initiative des
Adalbert Stifter-Vereins, die Fragen stellte Wolfgang Schwarz.
Die Corona-Krise war eine
Herausforderung sowohl für die Nationalstaaten als auch für die
Europäische Union. Halten Sie die Gewichtung der politischen
Kompetenzen – gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Krise –
zwischen beiden politischen Ebenen für ideal?
Israng: Es stimmt, dass in der
aktuellen Krise vor allem die Nationalstaaten im Vordergrund stehen.
Aber man muss sehen, dass die Europäische Union im Bereich
Gesundheitspolitik kaum Zuständigkeiten hat. Das vergessen manche,
die hier allzu schnell die EU kritisieren. Sicher hätte uns in den
vergangenen zwei Monaten an der einen oder anderen Stelle aber eine
bessere gegenseitige Koordinierung gutgetan. Insofern wird man
darüber nachdenken müssen, wie wir die Gesundheitspolitik für die
Zukunft auf europäischer Ebene krisenfester machen können. Dazu hat
Premierminister Babiš kürzlich aufgerufen und auch Bundeskanzlerin
Merkel hat erklärt, dass der Aufbau effektiver Gesundheitssysteme in
Europa ein Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ab dem
Sommer sein wird.
Larischová: Diejenigen, die
heute der EU Untätigkeit in der Krise vorwerfen, waren oft
dieselben, die vor zu weitgehenden Befugnissen der EU zu warnen
pflegten. Unsere Welt ist nicht ideal, auch vor der Corona-Krise war
sie es nicht, aber ich bin sicher, dass die EU-Ebene bei der
kommenden und herbeigesehnten Erholungsphase nach Corona sehr
behilflich sein kann. Diese Krise, die leider noch nicht vorbei ist,
hat uns allen vor Augen geführt, wie globalisiert die heutige Welt
ist. Viele haben erst während der Corona-Krise realisiert, dass wir
nur gemeinsam als Europäer die Chance haben, unsere strategische
Autonomie in lebenswichtigen Bereichen zurückzugewinnen.
Welche Herausforderungen brachte die
Corona-Krise konkret für Ihre diplomatische Vertretung mit sich?
Israng: Das Team der Botschaft
hat sich vor allem drei Herausforderungen gegenüber gesehen, die zum
Teil noch andauern: Zum einen die Betreuung von sich in Tschechien
aufhaltenden Deutschen oder Deutschen, die aus dringenden Gründen
nach Tschechien reisen wollten. Hier ging es um die Weitergabe
korrekter Informationen bei sich häufig ändernden Regelungen und
die Unterstützung bei Transit und Ausreise. Besonders wichtig wurde
dies während der Rückholaktion von Deutschen und Tschechen aus dem
außereuropäischen Ausland. Hier haben unsere beiden
Außenministerien die Kapazitäten solidarisch gebündelt und wir
standen in einem konstanten Austausch mit allen Akteuren in Berlin
und Prag. Und schließlich hat das Tschechische Innenministerium ein
Verfahren eingeführt, bei dem systemrelevante Arbeitgeber aus
Deutschland mit tschechischen Mitarbeitern einen Nachweis ihrer
Hygienestandards über die Deutsche Botschaft den tschechischen
Behörden anzeigen müssen. In diesem Rahmen hat die Botschaft
momentan rund 2000 Einrichtungen registriert, was einen enormen
Kraftakt bedeutet.
Larischová: Es waren mehrere,
in Wellen kommende Herausforderungen. Auf der einen Seite mussten wir
die Funktionsfähigkeit unseres Generalkonsulats auch für den Fall
einer eventuellen Ansteckung aufrechterhalten. Daher haben wir unser
Kollektiv in zwei örtlich getrennte Teams geteilt. Gleichzeitig
mussten wir aber auch den enormen Anstieg von konsularischen Fällen
und Fragen bewältigen. Die Tatsache, dass München über einen
international bedeutsamen Flughafen verfügt, führte dazu, dass wir
vielen ungeplant hier gestrandeten tschechischen Bürgern behilflich
sein mussten. Positiv war, dass die Deutsche Bahn nie ganz den
Betrieb eingestellt hat, und Deutschland den EU-Bürgern den Transit
stets ermöglichte, so dass unsere Mitbürger die Chance hatten, in
den meisten Fällen auf eigene Faust nach Tschechien zurückzukehren.
Die zweite große, mit viel Arbeit verbundene Welle kam mit dem
Krisenregime an den Grenzen, das nach wie vor oft verändert wird. Ab
jetzt jedoch eher in eine positive Richtung, in Richtung Lockerung.
Wir sind aber nach wie vor stark mit der Situation der Pendler und
der Mischehen beschäftigt.
Die deutsch-tschechische Geschichte
ist voller Höhen und Tiefen. Sind wir auf einem guten Weg zu einer
gemeinsamen Erinnerungskultur auch in strittigen Fragen wie z. B. der
Vertreibung der Sudetendeutschen?
Israng: Hier hat die
Deutsch-Tschechische Erklärung im Jahr 1997 eine wichtige Wegmarke
gesetzt. Beide Seiten haben darin das aneinander begangene Unrecht
bedauert und erklärt, dass es der Vergangenheit angehört und
ungeachtet unterschiedlicher Rechtsauffassungen die künftigen
Beziehungen nicht belasten soll. Wir sind seitdem im Prozess der
gegenseitigen Verständigung ein gutes Stück vorangekommen, auch
dank des segensreichen Wirkens des Deutsch-Tschechischen
Zukunftsfonds, der mit über 11.000 zivilgesellschaftlichen Projekten
die Menschen in beiden Ländern einander nähergebracht hat. Mir ist
bewusst, dass es weiterhin viel zu tun gibt und auch Rückschläge
nicht ausbleiben werden. Wichtig ist mir, diejenigen Kräfte in
beiden Ländern zu stärken, die sich aktiv für ein noch besseres
Verständnis einsetzen. Dazu gehören auch behutsame Schritte in
Richtung einer gemeinsamen Erinnerungskultur.
Larischová: Ich glaube, wir
müssen mit der Erkenntnis leben lernen, dass es unterschiedliche
Interpretationen der gleichen, geschichtlichen Ereignisse geben kann.
Die historischen Fakten sind klar, aber die Narrative sind anders.
Wichtig ist, dass heute Menschen beiderseits der Grenze wissen, was
geschehen ist, dass beiden Seiten Unrecht passiert ist und dass man
rechtzeitig alles dafür tun muss, damit sich die grausame Geschichte
nie wiederholt. Die tschechischen Kinder lernen in der Schule etwas
über die Nachkriegsereignisse, und das Schicksal der
Sudetendeutschen wird nicht mehr tabuisiert. Dies ist wichtig, damit
wir einen ehrlichen Dialog pflegen können.
Migration und Klimaerwärmung –
zwei Krisenthemen, die vor Corona die Nachrichtenlage dominiert
haben. Haben die Meinungsverschiedenheiten bzw. die unterschiedlichen
Lösungsansätze in beiden Ländern die deutsch-tschechischen
Beziehungen Ihrer Meinung nach stark beschädigt?
Israng: Beim Thema Migration
werden wir unterschiedliche Standpunkte auch weiter aushalten müssen.
Hierüber mag keine Seite besonders glücklich sein, aber wir haben
gelernt, dass es in Europa auch manchmal darum geht,
Meinungsverschiedenheiten zu respektieren. Beim Thema Klimaschutz
liegen wir gar nicht so weit auseinander. Auch die tschechische
Regierung hatte sich vor der Corona-Krise dem Kampf gegen den
Klimawandel verschrieben, den man hier v.a. durch große Dürren
spürt. Und den European Green Deal hatte man ebenfalls öffentlich
unterstützt, wobei nun abzuwarten ist, wie der neue EU-Haushalt
angesichts der Folgen der Corona-Krise aussehen wird.
Larischová: Es ist wahr, dass
die beiden Regierungen unterschiedliche Lösungsansätze verfolgen,
aber dies ist in der EU ganz normal. Schauen wir uns etwa die
Kernkraftpolitik Frankreichs an – sie steht den guten bilateralen
Beziehungen auch nicht im Weg. Die beiden genannten Themenkomplexe
haben sich im Lauf der Zeit auch stark weiterentwickelt. Die
Positionen der deutschen Politik zum Thema Asyl und Migration sind
heute nicht mehr die gleichen wie im Jahr 2015. Ebenso findet man bei
uns Tschechien nur sehr selten Stimmen, die den Klimawandel leugnen.
Vielfach hört man die
Argumentation, dass bilaterale Projekte, Gespräche oder Abkommen in
Zeiten der Existenz einer Europäischen Union überflüssig seien
bzw. entsprechenden europäisch-multilateralen Formaten weichen
sollten. Teilen Sie diese Ansicht?
Larischová: Nein, diese Ansicht
teile ich überhaupt nicht. Es ist eigentlich ganz natürlich, so wie
im menschlichen Leben, dass sich die unmittelbaren Nachbarn viel zu
sagen haben, weil sie gemeinsame Probleme, aber eben auch Freuden
teilen. Eine gelebte und freundliche Nachbarschaft ist der Kern einer
gut funktionierenden Union. Daher sind die bilateralen Projekte und
Gespräche nach wie vor so wichtig. Die bilateralen und die
europäischmultilateralen Foren stehen für mich in keinem
Konkurrenzverhältnis.
Israng: Viele Politikfelder sind
immer noch national geregelt – gerade in der Corona-Krise erleben
wir das nachdrücklich. Und lokale Details einer
grenzüberschreitenden Zusammenarbeit – z. B. welche Feuerwehrleute
wann und wo über die Grenze fahren dürfen – können gar nicht auf
der europäischen Ebene abschließend geklärt werden. Insofern ist
es weiterhin notwendig und gut, bilaterale Gesprächskanäle zu haben
wie den Deutsch-Tschechischen Strategischen Dialog, in dem sich alle
Ministerien auf beiden Seiten regelmäßig austauschen. Und
bilaterale Projekte sind ebenfalls notwendig, da eine
nachbarschaftliche Zusammenarbeit nicht abstrakt bleiben sollte,
sondern mit Leben gefüllt werden muss.
Die kulturellen Beziehungen zwischen
Deutschen und Tschechen mussten sich nach 1989 völlig neu
aufstellen. Wie stabil ist Ihrer Meinung nach inzwischen das Gerüst
auf dem Gebiet der Zusammenarbeit bei Kultur, Literatur oder Kunst?
Larischová: Dank wichtiger
Institutionen auf beiden Seiten und auch unseren gemeinsam
geschaffenen Strukturen, allen voran der Deutsch-Tschechische
Zukunftsfonds, der seit mehr als 21 Jahren diesen Austausch und
bilaterale Projekte fördert, können wir stolz sagen, dass das
Gerüst relativ stabil ist. Es ist eine Aufgabe auf Dauer, das
Interesse vor allem bei der jungen Generation für die Kultur des
Nachbarn zu wecken. Dabei spielt die Sprache des Nachbarn eine ganz
wichtige Rolle. Hier gibt es bei unseren beiden Ländern noch Luft
nach oben.
Israng: Die Kulturbeziehungen
zeichnen sich durch eine außerordentliche Vielseitigkeit und Dichte
aus. Das ist vielleicht die beste Trumpfkarte im
deutsch-tschechischen Verhältnis. Leider gehört die Kultur zu den
Hauptleittragenden der Corona-Krise. Ich wünsche mir, dass all diese
Aktivitäten nach Ende der Krise rasch wieder Fahrt aufnehmen.
Rechtsnationale und nationalistische
Parteien erstarken in Deutschland und Tschechien seit einigen Jahren,
in manchen europäischen Ländern stärkt sich die Exekutive selbst
massiv. Steht auch die Demokratie in den beiden Ländern Deutschland
und Tschechien vor einer ernsthaften Bewährungsprobe?
Larischová: Bei diesem Thema
sitzen alle liberalen Demokratien in einem Boot. Nur die Akzente der
antisystemorientierten Parteien variieren. Die neue
Online-Kommunikation im politischen Raum begünstigt nicht unbedingt
die traditionellen Parteien. Die Tendenz zur Oberflächlichkeit,
Übertreibungs- und Zuspitzungskultur spielt denjenigen in die Hände,
die in Schwarz-weiß-Kategorien denken und auf Qualitätsjournalismus
keine Lust haben. Die ernsthafte Beschäftigung mit den sozialen
Problemen der Gesellschaft nimmt ab. Wie kann man diese
Bewährungsprobe bestehen? Solche rechtspopulistischen Parteien zu
ignorieren oder zu imitieren hat bisher nirgendwo geholfen. Man muss
diese Kräfte mit den wirklichen politischen Themen konfrontieren.
Während der jetzigen Corona-Krise merkt man, dass die
systemkritischen Parteien (etwa die AfD in Deutschland oder die
Partei der Direkten Demokratie in Tschechien) an Popularität
verloren haben.
Israng: Extremisten, die
Demokratie und grundlegende Menschenrechte infrage stellen, müssen
wir uns entschlossen entgegenstellen. Mein Eindruck aber ist, dass
die verschiedenen Institutionen sowohl in Deutschland als auch in
Tschechien gut funktionieren. Selbst in der Krise kann die Exekutive
nicht einfach anordnen und alle müssen kommentarlos folgen. In
beiden Ländern gibt es zu den Restriktionen eine lebendige
Diskussion. Wichtig hierfür ist eine aktive Zivilgesellschaft.
Die Corona-Krise ist das große
Thema des Jahres 2020. Grenzschließungen und Reisebeschränkungen
ein Jahr nach dem 30-Jahr-Jubiläum der Samtenen Revolution und des
Mauerfalls sind sicher ein großer Einschnitt für die Menschen.
Welche konkreten Auswirkungen beobachten Sie schon jetzt bzw.
befürchten Sie künftig auf die deutsch-tschechischen Beziehungen?
Larischová: Die Schließung
unserer langen gemeinsamen Grenzen und deren praktische Konsequenzen
für das Leben von Menschen im breiten bayerisch-tschechischen
Grenzraum haben vielen von uns dramatisch vor Augen geführt, wie
stark wir in den letzten 30 Jahren zusammengewachsen sind. Es
bestehen überraschend viele menschliche grenzüberschreitende
Kontakte und Bindungen, die plötzlich schweren Belastungsproben
ausgesetzt sind. Ich gehe davon aus, dass die Reisebeschränkungen
und Grenzschließungen kein Dauerzustand sein dürfen und dass wir
zur Normalität des offenen Europas bald zurückkehren. Ich bin sehr
zuversichtlich, was die deutsch-tschechischen Beziehungen angeht. Es
sollte nämlich so sein, dass wir uns nicht nur gegenseitig brauchen,
sondern auch mögen.
Israng: Die Schließung der
Grenzen hat viele Verbindungen gekappt, die selbstverständlicher
Teil unseres mitteleuropäischen Alltags geworden sind. Beiderseits
der Grenze waren daher viele Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die
Maßnahmen erschrocken, hatte man sich doch an das unkomplizierte
grenzüberschreitende Arbeiten gewöhnt. Und die Botschaft haben
immer wieder betroffene Eingaben erreicht, in denen man sich um die
europäische Freizügigkeit gesorgt hat. Umso mehr sollten wir nun
auf beiden Seiten alles tun, dass möglichst bald wieder der
Normalzustand hergestellt wird.
Die Interviews wurden von POWIDL
gekürzt. Die Gespräche in voller Länge, sowie weitere Interviews
mit Vojtěch Blodig, stv. Direktor der Gedenkstätte Theresienstadt
und Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg ist
auf der Homepage des Adalbert Stifter-Vereins zu lesen: